Scherbenhelden

Antolin Quiz
von Johannes Herwig
Rezension von Janett Cernohuby | 25. Juli 2020

Scherbenhelden

Wenn das Leben aus den Fugen gerät, Bekanntes und Vertrautes plötzlich nicht mehr gilt, dann fällt es jedem schwer, wieder Fuß zu fassen. Ein Gefühl, dem nach dem Mauerfall und der Wende viele Menschen ausgesetzt waren. Manche kamen damit zurecht, andere verloren den Anschluss und rebellierten. Sie suchten nach Halt, nach Orientierung, nach irgendetwas, das ihnen Sicherheit bot. Manche fanden in der Punk-Szene wonach sie suchten. So auch der 15-jährige Nino.

Punk im Leipzig der 1990iger Jahre

Fünf Jahre sind vergangen, seit die Wende das Leben in Deutschland auf den Kopf gestellt und neue geordnet hat. Fünf Jahre, in denen die einen sich neu orientiert haben, die anderen es noch müssen und die nächsten um ihren Erhalt kämpfen. Den Erhalt ihrer Existenz oder ihres über Jahrzehnte aufgebauten Geschäfts. Ninos Vater beispielsweise, dessen Schuhgeschäft schon lange nicht mehr brummt, da die Kundschaft zu den großen Häusern mit billigeren Produkten wechselt. Aber auch Nino selbst weiß nicht, wo sein Platz ist. Nur wenige Monate vor der Wende ist seine Mutter in den Westen geflüchtet. Sein Vater und er blieben zurück. Nino hat gerade mit Ach und Krach die Versetzung geschafft, denn statt zu lernen verbringt er seine Zeit lieber mit Kiffen, Biertrinken und kleinen Ladendiebstählen. Als ihm bei einem solchen der Hausdetektiv auf den Fersen ist, findet er Schutz bei einer Gruppe Punks. Hier stehen Vandalismus, Drogenkonsum und Kriminalität auf dem Tagesprogramm. Nino findet hier ein Zuhause, trifft auf Gleichgesinnte, die ihn verstehen und die ihm das Gefühl geben, für ihn da zu sein. Gleichzeitig ist da dieses Mädchen, das ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt und das Nino fasziniert. Dennoch schwebt über allem die Frage, warum. Warum ist seine Mutter damals gegangen? Warum hat sie ihn und den Vater so kurz vor dem Mauerfall zurückgelassen?

Wenn sich die Hoffnungslosigkeit breit macht

Johannes Herwig erzählt ein Stück deutsche Zeitgeschichte auf eine Art, wie es bisher noch nicht getan wurde. Er schreibt von der Perspektivlosigkeit der Wendejahre, von dem Gefühl der Verlorenheit, der Neuorientierung und der Zerrissenheit. Plötzlich war alles weg, mit dem man aufgewachsen ist, das einem Halt gab. Plötzlich war dieser Halt einer Unsicherheit gewichen. Die Menschen mussten damit zurechtkommen - doch nicht jeder schaffte das. Nino ist einer, dem es nicht gelang. Dessen Welt durcheinandergeriet und durcheinander blieb. Das System weg, die Mutter abgehauen. Zurück blieb nur ein Vater, der weder Ansprechpartner, noch Stütze war. Dessen fehlendes Einfühlungs- und Redevermögen keine Offenheit darstellten, sondern Ratlosigkeit. Wie soll sich da ein 15-jähriger zurechtfinden? Seinen Weg gehen und etwas aus sich machen?
Johannes Herwig schildert eindrucksvoll, was in dem Jungen vor sich ging. Wie viel davon ist wohl autobiografisch? Welche Episoden hat er selbst erlebt, erfahren, mitgemacht? Der Autor gewährt uns einen Einblick in die Punkszene Mitte der 1990er. Nino ist Teil davon, zumindest hat es den Anschein. Er hängt viel mit Punks ab, verbringt die Nachmittage bei seinen neuen Freunden. Er erfährt was Zusammenhalt ist, aber auch was Gewalt ist. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen mit Rechtsradikalen, zu Racheakten seitens der Punker. Doch aus diesen hält sich Nino weitestgehend raus. Hätte er das nicht getan, wäre er vermutlich endgültig abgerutscht. So ist es ein letztes Schockerlebnis, das ihn zur Vernunft kommen lässt. Zumindest hat es den Anschein und man wünscht es ihm. Man wünscht ihm, dass er seinen Weg findet, dass er mehr aus sich macht, als nur herumzuhängen, Bier zu trinken, zu randalieren und mit der Polizei aneinander zu geraten.

„Scherbenhelden“ ist ein Stück Zeitgeschichte und gewährt uns einen Einblick in die Perspektivenlosigkeit, der Jugendliche in der Mitte der 1990er Jahre begegneten. Der Roman zeigt, wie zerrissen sie waren, nachdem das System, in dem sie aufwuchsen, über Nacht verschwunden war. Mitgenommen hat es viel: ihre Chancen, ihre Eltern, ihren Halt. Johannes Herwig führt uns das auf eine unaufgeregte,  emotionale Weise vor Augen. Damit schuf er einen Nachwenderoman mit einer völlig anderen  Ausrichtung.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    06/2020
  • Umfang:
    272 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • Altersempfehlung:
    14 Jahre
  • ISBN 13:
    9783836960595
  • Preis (D):
    16,00 €

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Gewalt:
  • Gefühl:

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