Jenseits der blauen Grenze

von Dorit Linke
Rezension von Janett Cernohuby | 02. Mai 2015

Jenseits der blauen Grenze

Unglückliche und unzufriedene Menschen gab es in der DDR reichlich. Einige von ihnen arrangierten sich mit ihrem Los, andere konnten dies nicht. Sie sahen in einer Flucht oftmals den einzigen Ausweg für ihre trostlose Situation. Welchen extrem gefährlichen und überaus riskanten Gefahren sie sich dabei aussetzten, ist eigentlich kaum vorstellbar. "Jenseits der blauen Grenze" von Dorit Linke erzählt von einer Flucht aus der DDR über den Seeweg.

Hanna und Andreas wachsen in der DDR der 1980-iger Jahre auf. Ihr lockeres Mundwerk und ihre leichtsinnige Art zu provozieren macht die Lehrer auf sie aufmerksam. Für Andreas bedeutet das sogar einen Aufenthalt im Jugendwerkhof und das Aus für seinen Traum von Abitur und Studium. Wenigstens bekommt er noch eine Lehrstelle vermittelt. Hanna besucht zwar die Erweiterte Oberschule, als ihr Großvater sich allerdings einen dummen Scherz erlaubt, nimmt dies ungeahnte Folgen. Keiner glaubt den beiden Jugendlichen, dass sie damit nichts zu tun haben und so fliegt Anna von der Schule und Andreas aus seinem Ausbildungsbetrieb. Sie landen als Arbeiter im Dieselmotorenwerk. Doch schikanierende Vorgesetzte und ihnen nachstellende Kollegen machen den beiden das Leben zur Hölle. So beschließen sie, aus der DDR zu fliehen. Schwimmend über die Ostsee. Von Kühlungsborn bis Fehmarn. Fünfzig Kilometer in fünfundzwanzig Stunden - wenn alles glatt läuft. Doch das tut es nicht. Die Strecke ist lang und anstrengend. Und Hanna muss mit ansehen, wie Andreas immer schwächer wird und die Hoffnung verliert...

Mit einer Schnur um die Handgelenke verbunden, rennen die beiden jungen Menschen des Nachts ins Meer, in die Ostsee. Kaum vorstellbar, wie man eine solche Tortur auf sich nehmen kann. Sich in das Binnenmeer zu stürzen, sich Strömung, Wind und Wetter auszusetzen, um in die Freiheit zu entkommen. Doch die Menschen der DDR, die nicht bereit waren dem Wahnsinn des Alltags zu folgen, waren verzweifelt. Sie verzweifelten an einem System, dass Ihnen die Luft zum Atmen, die Möglichkeit sich nach eigenen Wünschen zu entfalten, nahm.
Dorit Linke erzählt die Geschichte von Hanna und ihrem Freund Andreas in kleinen Rückblenden. Von einer Kindheit und Jugendzeit zwischen Intershop, Jugendweihe und Staatsbürgerkunde. Zwischen Pionierknoten und FDJ-Hemd. Der Leser wird mit auf eine Zeitreise genommen, welche für alle, die selbst noch in der DDR geboren und aufgewachsen sind, umso intensiver wird. Plötzlich kommen Erinnerungen auf, wie man selbst erst ein Jungpionier und später ein Thälmannpionier war (denn entgegengesetzt zu den Angaben im Glossar blieb man nicht bis zum Ende der 7. Klasse Jungpionier), wie man der Jugendweihe entgegenfieberte oder sich über Westpakete freute. Unbewusst nickt man zustimmend, wenn in kleinen, unbedeutenden Nebensätzen erwähnt wird, dass aus dem Westpaket wieder einmal das Nutella geklaut worden war oder wie gut Lehrer über das Verhalten ihrer Schüler in der Freizeit informiert waren.
Doch der Kern der Handlung ist ein weitaus erschütternder. Wir begegnen zwei Menschen, die am System der DDR scheiterten und zerbrachen. Ein dummer Streich, ein falsches Wort und schon war die Zukunft ruiniert. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machte sich breit - vor allem bei Andreas. Er muss weg, das ist ihm klar, andernfalls würde er es nicht mehr lange durchhalten. Diese Hoffnungslosigkeit und Perspektivenlosigkeit kann Dorit Linke sehr überzeugend darstellen. Dabei ist es vor allem die schnörkellose Sprache, welche die Handlung so ergreifend und erschütternd macht. Man bangt mit den beiden, empfindet Hoffnung und Zuversicht, als sie in internationale Gewässer kommen, und absolute Verzweiflung, als die ersten Schiffe sehen. Spätestens jetzt kann man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil man die beiden endlich in Sicherheit und auf westdeutscher Seite wissen möchte. Doch bis dahin ist es noch ein sehr, sehr weiter und vor allem kräftezehrender Seeweg.
Eines jedoch müssen wir bemängeln. Nämlich die Darstellung der Angaben des Glossars. Denn wie bereits zuvor erwähnt, ist die Aussage über die Jung-/Thälmannpioniere nicht ganz zutreffend. Auch die Erläuterungen zum HO sind unglücklich geraten. Gemeint ist zweifelsfrei das Richtige, doch ist die Wortwahl eher ungeschickt gewählt, dass man genau das Gegenteil versteht. Hier ist für eine weitere Auflage auf jeden Fall eine Nachbearbeitung wünschenswert.

"Jenseits der blauen Grenze" von Dorit Linke ist ein ergreifender und bewegender Roman. In ihm wird die Geschichte zweier Jugendlicher erzählt, die sich im Sommer 1989 zur Flucht in den Westen entschließen. Das Buch ist ein Stück Zeitgeschichte und zugleich ein lebendiges Bild über das Leben von jungen Heranwachsenden in der DDR. Das Werk ist äußerst empfehlenswert und noch lesenswerter.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    07/2014
  • Umfang:
    304 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • Altersempfehlung:
    13 Jahre
  • ISBN 13:
    9783734856020
  • Preis (D):
    16,95 €

Bewertung

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